Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.
Franz Rieder • Die Welt steht uns offen. • Wir nicht Man • Wir alle oder Keiner • Das regulative Wir (Last Update: 22.03.2017)
Heidegger setzt mit dem „Man“ und dem „eigentlichen Selbstsein“ eine Opposition in das Dasein als Lebensvollzug, die dem traditionellen Schema der Selbstwußtseinsphilosophie folgt (wir gehen zu einem späteren Zeitpunkt darauf noch näher ein). Was er hier einführt und was fortan in der Philosophie, vor allem im Nachgang von Sartres Existentialismus von „Das Sein und das Nichts“ sowie der „Kritik der dialektischen Vernunft“ eine wichtige Rolle spielt ist der Begriff des Anderen.
Bei Heidegger ist der Mensch bzw. das
Dasein des Menschen am Beginn bestimmt als ein Ausgangszustand der
Uneigentlichkeit, insofern es durch die vorgängigen Faktizitäten
wie die kulturellen, sprachlichen und normativen Gegebenheiten
bestimmt ist. Der Daseinsvollzug des Menschen steht also im
Verständnishorizont oder wie Heidegger es auch nennt, in der
Botmäßigkeit der Anderen. Diese Anderen (groß
geschrieben), die auch gleich bedeutend sind mit dem „man“
im:
„Wir genießen und vergnügen uns, wie man
genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und
Kunst, wie man urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen
Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht“1,
sind also keine speziellen Personen, sondern fungieren als das
eigentliche Sein des Daseins bis es zu seinem eigentlichen Selbstsein
im Vollzug gefunden hat.
Es steht also ein „uneigentliches Sein“ am Anfang der menschlichen Existenz, das sich potenziell im Laufe des Lebens bzw. des in-der-Welt-seins zu einem eigentlichen bzw. authentischen Sein entwickeln, verändern kann. Ohne auf die Dialektik eingehen zu müssen, sehen wir hier in den Kern der Hegelschen (Selbst-) Bewußtseinsphilosophie, wenn auch begrifflich an einigen Stellen differenziert werden muss, was aber insgesamt keinen wesentlichen Unterschied macht. Diesen „Anderen“ werden wir später auch bei Lacan als den Signifikanten wiederfinden.
Es ist
keineswegs Heideggers Verdienst, diese Ebene des „Man“
als eine Ebene im Verständnishorizont des menschlichen Daseins
eingezogen zu haben. Er hat diese Ebene als eine ontologische Ebene
definiert und als solche in seiner Daseinsanalyse berücksichtigt.
Das Man oder wie Heidegger es selbst auch nennt, die „Öffentlichkeit“
ist einfach da und sie begleitet das Dasein ontologisch durch die
Zeit. Begleitung aber wäre ein schwacher Terminus, als die
Öffentlichkeit ein gewichtiges Regulativ darstellt:
„Alles
Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt
geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis
verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt
wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung
nennen wollen“2.
Dieses Regulativ, das verdeutlicht das Zitat, ist also keine äußerliche, disponible Angelegenheit, sondern definiert das Sein als so verstandenes, so zu verstehendes Sein. Und es ist zeitlebens eine Instanz, die dem affirmativen oder uneigentlichen Dasein auch die Verantwortung für es selbst abnimmt, indem es seine faktische Legitimität als eine bestehende, bereits gelebte Ordnung repräsentiert. Man kann sich darauf berufen. Dann machen wir es ebenso, wie alle anderen und immer schon.
Wir wollen an dieser Stelle eine kleine Änderung einführen, die sich aber schnell als etwas mehr als nur eine begriffliche Nuance herausstellen wird. Wir sprechen anstelle des „Man“ lieber von „Wir“, auch um das vorletzte Zitat auf dieser Seite dahingehend zu gewichten, dass das „Wir“ darin durchaus das „Man“ nur akzidentiell braucht. Oder anders gesagt:„Das Man“ ist das „Wir“. Wir genießen und vergnügen uns heute nicht mehr wie man genießt, sondern wie wir uns in unserem sozialen Umfeld oder Milieu genießen; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, nicht wie man urteilt, sondern wie wir es in unseren Schulen, Unis, Freundeskreisen mit Künstlern und Literaten oder in privaten Gesprächen gelernt und entwickelt haben; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, nicht wie man sich zurückzieht, sondern wie wir uns zurückziehen.
Mit dem „Wir“
möchten wir feststellen, dass erst einmal wir selbst es sind,
auch wenn wir handeln, denken, tun, was unsere soziale Umgebung von
uns erwartet. Ein abstraktes „Man“ hilft da wenig, um
diesen Sachverhalt besser zu verstehen. Und wir stellen fest, dass es
nicht eine ontologische Ebene des Seinsverständnis gibt, sondern
viele, fast unzählige, aus denen wir ein gutes Dutzend schon im
frühen Leben „beherrschen“.
Wir sind nicht einem
uns fremden in-der-Welt-sein ausgesetzt oder verfallen, sondern
begegnen den unterschiedlichsten Welten auf unterschiedlichsten Arten
und Weisen, jeder anders, überall verschieden. Nach ein paar
Ohrfeigen haben wir die Welt des Kindergartens einigermaßen „im
Griff“, nach ein paar Fünfen und Elternsprechtagen haben
wir unser Abi. In den Unis lernen wir recht schnell den jeweiligen
Diskurs der Fakultät und der Fachbereiche und wenn wir nicht in
Berlin-Neuköln aufgewachsen sind, gehen wir auch tagsüber
mit offenen Augen durch die Straßen dort.
Problematisch wird
es also jeweils und immer sehr spezifisch, wenn wir den Diskurs der
anderen nicht kennen und nicht selbst zur jeweiligen Öffentlichkeit
gehören.
Strukturell ist das „Man“ bei Heidegger definiert als Uneigentlichkeit und Fremdbestimmtheit, was wir also nicht so stehen lassen können. Und auch nicht die Grundlegung der menschlichen Existenz aus der Uneigentlichkeit des „Man“ als: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst“3. Alles man unterliegt zeitlicher Veränderung und hat an verschiedenen Orten verschiedenartige Ausprägungen. Das Heideggersche „man“ mutet demnach auch ein wenig an, wie eine Reflexion auf die sozialen und normativen Verhältnisse seiner Zeit in den 20er Jahren in Marburg. Mit Sicherheit fand man zur gleichen Zeit im Ruhrpott eine andere Faktizität bzw. Öffentlichkeit vor.
Nichts desto trotz behalten wir den grundlegenden Charakter des in-der-Welt-seins als Kontingenz, als Zu-Fälligkeit des Daseins prinzipiell. Wir sehen allerdings in der Bestimmung der Kontingenz als Uneigentlichkeit, Verfallen-sein und Fremdbestimmtheit eine Hypostasierung als sich darin eine Vorstellung repräsentiert, die mit dichotomischen Gegensatzpaaren ihre begriffliche Konsistenz entfaltet.
Die Welt steht uns offen.
Kontingenz erfordert keine weitere Bestimmung. Was Heidegger als Uneigentlichkeit, Verfallen-sein und Fremdbestimmtheit als Grundstruktur des in-der-Welt-seins ausweist, ist eine Hypostasierung. Sie repräsentiert einen zentralen Aspekt im Zeitalter der immer schneller sich entwickelnden und sich ausbreitenden Industriegesellschaft mit der umfassenden Kollektivierung des menschlichen Daseins in der Öffentlichkeit durch Politik und in der Arbeit durch die moderne Ökonomie.
Im nächsten Abschnitt gehen wir ein wenig mehr auf Heideggers Bestimmung der Sorge als das Sein des Daseins ein. Im Vorgriff darauf sei hier schon notiert, dass Heidegger sich durchaus um die problematische Identifikation der Struktur des Seins des Daseins mit Sorge bewusst ist. Im § 42 von Sein und Zeit unternimmt er deshalb im Rückgriff auf eine antike Fabel des Hyginus zurück (220. Fabel: „Cura cum fluvium transiret …“) den Versuch, die existenziale Interpretation des Seins des Daseins als Sorge vorontologisch zu „bewähren“. Was eine „Bewährung“ ist oder meint, ist schwierig herauszufinden, gleichwohl sich in diesem Versuch eine fast schon prinzipielle Vorgehensweise Heideggers zeigt, die für die späten Werke dann tatsächlich bezeichnend ist.
Wir halten „Bewährung“
für einen durchaus legitimen „Ersatzbegriff“ für
den der „Begründung“, wenn es darum geht, etwas zu
begründen, was ob seiner Grundlosigkeit (Kontingenz) nicht zu
begründen ist.
„Weil die Phänomenologie allein
sich selbst nur durch sich selbst sich bewähren kann, ist jede
Standpunktnahmen eine Sünde, wider ihren eigensten Geist.“
(…) Nur durch sich selbst kann die Phänomenologie sich
bewähren, sie muss ihre Methode vollziehen, um sie zu haben, und
sie hat sie nur im Vollzug ihrer selbst4.
Nimmt man
andere Stellen seiner Philosophie hinzu, dann erkennt man hier die
Parallelität zwischen Phänomenologie und „Urwissenschaft“
in der Selbstbestimmung ihrer Methodiken. Es ist aber das Dilemma
Heideggerschen Denkens prinzipiell, dass es seinen eigenen
Anforderungen nur so nachkommen kann, dass nämlich die Autonomie
ihrer Begründungen sich einzig in Zirkularitäten
auszusprechen in der Lage ist.
Hier wird deutlich, dass der
Versuch, sich von Husserl zu lösen, auf diesem Weg schwerlich
gelingt. Zur Begründung ihrer Methodik, bzw. auch zur
Ermöglichung ihrer Selbstreferenzialität braucht auch
die Phänomenologie logische Regeln, die außerhalb ihrer
selbst liegen und die sie also nicht begründen kann, zumal sie
die Ergebnisse ihres Vollzugs nur unter Verwendung von logischen
Annahmen interpretieren muss.
Heidegger weiß darum, wenn er
darauf verweist, dass die Phänomenologie ihre Ergebnisse
sprachlich artikulieren muss und bezieht sich dabei auf Platon, der
die ontisch-ontologische Differenz ausdrücklich in Allegorien
und anderen sprachlichen Ausdrücken als eben jene Differenz zur
Idee festgehalten hat. Bei Heidegger stehen aber nun keine
Ideen ihrem sprachlichen Ausdruck gegenüber, sondern eigenartige
Seinsweisen von Umittelbarkeit.
„Das unmittelbare Sehen
(noein), nicht bloß das sinnlich erfahrende Sehen, sondern das
Sehen überhaupt als originär gebendes Bewusstsein, welcher
Art immer, ist die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen
Behauptungen. Rechtgebende Funktion hat sie nur, weil und soweit sie
originär gebende ist.“.5
Dieser Versuch einer vorontologischen und gleichzeitig auch nicht reflexiven Bewährung richtet Heidegger gegen Husserls theoretisches Konzept der „Intentionalität“. Die Sorge soll dementgegen eine Seinsweise des Menschen beschreiben, die sich nicht nur auf das erkennende Anschauen der Welt beschränkt, sondern zunächst im praktischen Umgang mit der Welt steht, der dann auch eine theoretische Erfassung der Welt ausprägen kann. Zum einen also vergegenständlicht Heidegger eine obskure Unmittelbarkeit, zum anderen will er aber auch eine tatsächliche Erlebensdimension festhalten, die zugleich eröffnend wie entdeckend ist.
Der Vollzug des Daseins des Menschen ist von Beginn an zugleich eröffnend wie entdeckend, vor allem einprägend, weder intentional noch reflexiv und in seinem Sein grundlos, also kontingent. Um nicht die gleichen Verwirrungen zu stiften, wie die Bewußtseinsphilosophie und zum Teil auch die moderne Phänomenologie betonen wir an dieser Stelle mit Nachdruck, dass der Vollzug des Daseins von Beginn an auch nicht vor-sprachlich, vor-intentional, prä-reflexiv o.ä. ist.
Die tatsächliche Erlebnisdimension liegt in der Interaktion des Daseins mit anderen. Mimisch, gestisch, sinnlich, körperlich. Die Bestimmung des menschlichen Daseins aus philosophisch anthropologischer Sicht ist daher dadurch gegeben, dass der Mensch von Beginn seiner Existenz an seine Lebensverhältnisse, in denen sich sein Dasein vollzieht, mitgestaltet. D.h. dass er zu jeder Zeit und überall, aber jeweils unterschiedlich nach den jeweiligen Bedingungen, in seine Realität verändernd eingreift, bzw. diese Realität mit prägt. Dies gilt nicht nur für seine Lebensverhältnisse, sondern mithin für seine Lebensgrundlagen.
Wir nicht Man
In der Interaktion des Daseins mit anderen, mit anderen Menschen und mit Gegenständen, vollzieht sich das-in-der-Welt-sein des Menschen. Weder kennt noch weiß der Mensch am Beginn seines Lebens etwas von einem anderen, gar einem „Man“. Auch nichts von Gegenständen.
Die Psychoanalyse Freuds z.B. hinterließ den ungeheuren Gedanken, dass das Kind die Welt nicht als von ihm verschieden wahrnimmt und erlebt, sondern als Teil von sich und sich selbst als ein Teil der Welt. Heidegger suchte mit Mitteln des Denkens eine Unmittelbarkeit, in der die Trennung von Ich und Ding verfließt und den Umgang mit den Dingen nicht aus einem fragwürdigen Sein des Dings versteht, sondern aus der Zeit, aus dem Werden, dem auch die Dingwelt unterliegt.
Schwierig heute Sätze zu wiederholen oder zu zitieren, wie die vom Juni 1950 (siehe Fußnote6), die keine Parodie auf einen Philosophen-Jargon, gar ein Spleen sind, sondern echter Heidegger. Aber hier liegt Heideggers Radikalität, ein Jahrhunderte langes Selbstverständnis des Menschen in Frage zu stellen, nach dem sich der Mensch aus sich selbst heraus nur in verschiedensten Auffassungen als Subjekt verstanden hat, als Vernunft, Ich, als Wille; ich bin ich, alles um mich herum ist Zeug, Ding, Gegenstand.
Heidegger will den Menschen vom Sein her verstehen und damit das Ich in seiner fragwürdigen, scheinhaften Stabilität destabilisieren. Er nimmt es aus dem Zentrum des Denkens und löst es auf in „Geschicke“, die nicht erst mit dem Ich beginnen, noch nur durch ein sich selbst reflektierendes Bewusstsein begründet sind. Denken heißt dann, sich auf Geschicke und deren Vorgeschichten zu besinnen.
Für uns sind Dinge Gegenstände, Zeug zum Verfügen, zum Betrachten, zum Konsumieren. Sie liegen stumm vor uns, leblos, wehrlos. Selbst Menschen wurden damals, als um 1927 „Sein und Zeit“, dieses Werk monströser Banalität erschien, so gesehen. Kinder, Babys, waren nur ein noch-nicht-Wesen, ein kleiner Mann oder eine kleine Frau, Babies eine tabula rasa in der Welt der Erwachsenen. Dass Kinder massiv in die Welt eingreifen, sich einprägen, wie der Stempel in die Metalllegierung bei der Münzprägung, gar ein eigenes „Lusterleben“ haben sollten, war natürlich ein Affront.
Kaum auf der Welt, verändern die Kleinen das Leben der Eltern, drücken ihnen einen Schlaf-Wach-Rhythmus auf, der bis an die Substanz gehen kann, halten die Windeln feucht und schmutzig, bis sie den Weg zum Töpfchen brav gelernt haben. Sie erzeugen emotionale Stürme bei Oma und Opa, veranlassen jeden, in die Wiege zu grinsen wie blöde und wenn sie nicht aufhören zu schreien, kann das Ich von Mama und Papa schon mal über seine Grenzen hinaus geraten. Und sie erleben nicht ihr Dasein als Ich und Mama und Papa, als ein lustvolles Prinzip von Haben und Machen, quasi als Vorstufe von Ich und Du.
Es ist auch keine wirkliche Weiterentwicklung, wenn das Ich als Ensemble von Partialtrieben und das „Objekt“ als eine Ansammlung von Partialobjekten bestimmt werden. Gewiss, das Ich (Bewusstsein) steht nun nicht mehr im Zentrum des Daseins, aber nun ersetzt die Frage nach den körperlichen Bedürfnissen und Trieben die Frage nach dem Dasein. Sie fungiert nun wie eine untergelegte Substanz, ein eigentliches Wesen am Grund des menschlichen Daseins und bildet einen neuen Mythos einer objektivierbaren Wahrheit.
Die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse und mysteriöser Passionen laufen gewissermaßen zeitlich der Entwicklung des Denkens vorweg und in der Entwicklungspsychologie suchte und fand man dann die entsprechenden Phasen der kognitiven Entwicklung, die heute mit Neurobiologie weiter differenziert werden.
Wahrheit aber ist im Existieren, nicht im Erkennen. Existieren ist nach Heidegger „Da-sein“, nicht „Sein“. Neurosen aller Art, schmerzende Gliedmaßen bei Wahrnehmung bestimmter Wörter, spontane Angstzustände und unerklärliche Zwänge, alle ohne medizinischen Organbefund, waren am Beginn des 20. Jhd. sensationelle Extravaganzen für die modernen Wissenschaften, die Kunst wie die Philosophie. Das menschliche Dasein aber ist weder sensationell noch extravagant. Es beginnt – und nur so ist der Aspekt der Zeit zu sehen als Hinweis auf ein individuelles Dasein – mit seinem Vollzug in einer sozialen Umgebung, im „Wir“.
Dieses „Wir“ ist kein Ich und Du nebst weiteren anderen, sondern komplexe Interaktion wie auch die sinnliche Interaktion mit den Dingen am Beginn der menschlichen Existenz steht. Das Dasein erschließt bzw. entwirft sich also in der Interaktion aus seiner Kontingenz, oder wie Heidegger sagt, „Geworfenheit“. Wir können nichts dazu, dass wir nicht in Südostasien geboren wurden. Wir können auch nichts für das „Wir“ und den Schnuller, den es uns entgegenhält. Aber wir lernen zu interagieren und verändern damit beidseitig unser in-der-Welt-sein. Wir lernen, dass es „Antworten“ in unserem sozialen Milieu gibt und Dinge, die nicht antworten. Die Geschichten der Krüge und Schnuller um uns herum erschließen sich uns nicht, aber selten verlieben wir uns nachhaltig in Schnuller, obwohl auch das vorkommt.
Unser Dasein ist am Beginn keine Sorge, aber durchaus ein Vollzug des „Besorgens“, was aber nur ein anderes Wort für Interaktion ist. Und es ist nicht bestimmt als ein alltägliches „Verfehlen“, als bestimmt durch ein „Man“, welches über jede sich vordrängende Ausnahme bzw. Äußerung eines eigentlichen Selbstseins wacht. Und sofern ich nicht aus einem Man bestimmt bin, werde ich mir als das, was ich bin auch nicht vom Man als fremden Sein meines Daseins gegeben.
Derartige Hypostasierungen haben ihren Ursprung in dem Gedanken, dass ein abstraktes Dasein einer ebenso abstrakten, unüberschaubaren, unauffälligen Herrschaft der Anderen gegenüber steht. Das Dasein vollzieht sich aber nicht aus einem Gegensatz einer abstrakt-amorphen Uneigentlichkeit und einer anonymen Herrschaft. Nehmen wir den Gedanken des „Man“ auf, dann halten wir dessen innersten Kern eines vorgängigen Normativs als Verstehenshorizont, unter dem das menschliche Dasein sich vollzieht fest.
Dieses Normativ ist aber auch kein Man wie es kein Wir ist. Das Wir steht für die Ebene des Regulativs. Mit dem Man tangierte Heidegger das, was man und wir heute die symbolische Ordnung nennen, die aber wiederum konkret gründet in Normen, versteht man unter Normen konkrete Verhaltensregeln, denen allgemein formulierte Werte entsprechen.
Wir alle oder Keiner
Wir gehen sogar noch weiter und
formulieren: Die Grundlage der symbolischen Ordnung sind alle jene
geistesgeschichtlichen Ideen, die das Fundament einer Kultur bzw.
unserer Gesellschaft bilden und die der eigentliche, der wahre und
normative Verständnishorizont unseres Daseins ist.
Innerhalb
dieser Ebene des Symbolischen bzw. des Normativen findet der Mensch
sich in der Ebene des Regulativen wieder. Wir trennen diese beiden
Bereiche, gleichwohl sie in vielen Belangen fließende Übergänge
kennen. Aber nicht per se.
So gibt es im gesellschaftlichen Leben Verhaltensregeln in Form von Gesetzen und in Form von „Spielregeln“, was nicht dasselbe ist. Gesetze und Spielregeln können zwar den selben Ideen folgen, etwa der Idee von Gerechtigkeit, Eigenverantwortung oder Humanität, trotzdem ist die Ebene des Regulativen eine gänzlich andere, vom Wesen, Sinn und der Erfahrung her gesprochen, als die Ebene des Gesetzes.
Wir erleben die Regeln des Spiels auf den Hinterhöfen der Stadt überall und jeweils anders, aber wir lernen sie und wir bestimmen im Sinne von entwerfen die Regeln in der Interaktion mit allen anderen weitgehend als Spielregeln selbst mit. Wer sie dann nicht einhält, spielt nicht mit. Wir bestimmen in der Schulklasse und in schulischen Untergruppen Verhaltensweisen im Sinne von Spielregeln, etwa, wie wir mit Lehrern und Mitschülern umgehen, was auch nicht immer den schulischen Regeln entspricht und bestimmen somit unser Gruppenverhalten von Solidarität, offen geäußert oder stumm gebilligt, und den oder die, die unseren Regeln nicht folgen als Aussenseiter. In der Parallelklasse kann das schon gleich ganz anders aussehen.
In unzähligen Gruppen und Milieus,
in Vereinen, im Kindergarten, in den Bildungseinrichtungen und in den
Gruppen und Abteilungen unserer Arbeitsverhältnisse bis hin zur
Schwarzarbeit spielen wir nach Regulativen, die kein Man aber ein Wir
bestimmt.
Unser gesamtes Dasein vollzieht sich überwiegend,
wenn nicht gar ausschließlich für die meisten Menschen
innerhalb dieses Wir, dieser sozialen Gruppen. Und wir lernen nicht
nur die Spielregeln, wir entwerfen und gestalten ständig neue.
Je nach dem wer wo lebt, kommen da gerne mal ein Dutzend und mehr
Gruppen und Milieus zusammen und wir navigieren meist auf
ungefährlichen Routen durch die Regulative. Und es ist durchaus
auch im Sinne des Wir, dass wir stets an den Spielregeln
weiterarbeiten, sie verändern und ausgestalten. Denn Spielregeln
sind nichts Festes und entwickeln sich auch nicht nach soziologischem
Gruppenverhalten oder analytischen Entscheidungsfindungsprozessen.
Spielregeln sind Auslegungen und haben eine gewisse, meist durchaus signifikante Auslegungsbreite. In manchen Gruppen und Milieus ist die Ebene des Regulativen gleichzeitig auch bestimmt als gänzlich gegen die Ebene des Normativen gerichtete Verhaltensintention. Generell gilt dies auch in graduierter Form für das Regulativ, insofern hier der Mensch auch den Ort der Abweichung vom Gesetz findet. Dieser Ort ist also nicht das „Private“ in Opposition zum „Öffentlichen“ oder zur „Faktizität“. Die Ebene des Regulativen geht quer durch alle Bereiche des menschlichen Daseins, sei es in Unternehmen, also dem Bereich der Ökonomie, in der Familie, der Nachbarschaft, in Sportvereinen, Musik-Bands, in Stadtvierteln aller sozialen Coleurs, in Kirchengemeinden; es gibt keinen Bereich des in-der-Welt-seins, der nicht durchwirkt ist.
Das Regulativ ist auf seine Art der Umgang mit dem Faktischen, der aber weder affirmativ noch disruptiv qualifiziert ist. Weder ist er teleologisch noch intentional. Seine Wirkung ergibt sich in der Gruppe, im Milieu im Umgang mit allen Beteiligten und Unbeteiligten sowie in der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit der normativen Ordnung des Gesetzes, wenn dies tangiert ist, was nicht selten vorkommt. Was es aber spezifisch auszeichnet ist sein Charakter sozialer Gruppierung, der fest oder lose sein kann, mehr oder weniger kohärent. Es ist sein Charakter: wir alle oder keiner.
Es geht also auch um Gleichheit, ein Wort, das heute unvermeidlich ist, wenn vom Wir die Rede ist. Warum eigentlich? Weil der Unterschied eben nicht zählt. Die alte Gleichheit hat nichts mit der Idee von Gerechtigkeit zu tun, bei der es um die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz geht, also mit einem Normativ. Sie ist keine Chancengleichheit. Sie ist eine Ergebnisgleichheit, eine Gleichförmigkeit, ein Zustand, den die Griechen Monotonie nannten.
Die Ebene des regulativen Wir hat auch nichts mit Formen des Neokollektivismus zu tun, gleichwohl sie dem recht nahe kommt. Der aristotelische Gedanke, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile liegt wohl unter der Illusion, dass es so etwas geben kann wie eine kollektive Intelligenz oder eine Schwarmintelligenz. Dass sich also die Intelligenz von Individuen addieren lasse und eine Art Superverstand bzw. -Hirn dabei herauskommt; wohl bekomm’s! Aber bis dato ist der Satz weder bewiesen worden noch hat er sich in der Praxis bewährt.
Das regulative Wir
Das Wir ist kein schlaues Kollektiv. Das Wir ist aber auch kein Synonym für einen ewigen Kulturkampf zwischen Freiheit und Individualismus auf der einen und geschlossenen Systemen wie Kirchen, Staaten, Ideologien, Revolutionäre, Konterrevolutionäre, Fabrikbesitzer, Manager, Politiker, Interessengruppen und Legionen ihrer Beamten und Angestellten, die alle ihre Interessen im kohärenten Wir-System spiegeln, auf der anderen Seite. Wir halten nichts von diesen intellektuell-kategorialen Graben- und Lagerkämpfen.
Die Sache mit Herrschaft und Knechtschaft, mit Freiheit und Unterdrückung, Macht und Ohnmacht, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit und wie auch immer, kommt an ganz anderer Stelle im Dasein ins Spiel, gleichwohl bestimmt alles das das scheinbare Sein des Daseins von Beginn an mit.
Wir haben uns so sehr an die folgende Wahrheit gewöhnt, dass sie
auszusprechen schon fast einer historischen Trivialität gleich
kommt. In dem 1929 erschienenen Buch des spanischen Soziologen José
Ortega y Gasset: „Der Aufstand der Massen“ lesen
wir, dass es entscheidend für jede Gesellschaft sei, wie in ihr
geherrscht und gehorcht wird. Ortega y Gasset benennt sodann
angesichts der damals hochaktuellen politischen Entwicklung die
Konsequenzen des damaligen neuen, totalen Wir-Systems, das bald
Millionen Opfer fordern sollte:
„Anderssein ist
unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was
ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer
nicht ‚wie alle‘ ist, wer nicht ‚wie alle‘
denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.“
Der erste Irrtum war schon der zu formulieren, dass Anderssein nicht nur konnotiert, sondern auch faktisch dem entspricht, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Viele von denen, die hier gemeint sind, waren nicht im Widerstand oder Opposition, sondern sind brav mitmarschiert. Einige von ganz ausgezeichneter Intellektualität als Künstler, Schriftsteller etc. Der zweite Irrtum ist zu glauben, dass man das Wir des Totalitarismus mit dem Wir in jeder Gesellschaftsform gleichsetzen kann, was gerne gemacht wurde und bis heute einigermaßen intellektuell verführerisch wirkt. Solche holzschnittartigen, mechanischen Gedankenkonstruktionen, haben schon wenig bei der Verständnisarbeit damaliger Gesellschaften getaugt und sind für heute Gesellschaften völlig unbrauchbar geworden. Das kollektive Wir ist nicht dasselbe wie das regulative Wir.
Moderne Gesellschaften brauchen das
regulative Wir für ihr Funktionieren und also für ihren
Fortbestand. Und Wir kommen als regulatives Wir vereinnahmt gleichsam
auf ebener Strecke relativ einfach und problemlos an die Wohltaten
der Gesellschaft. Wir sind es, die sich an die Spielregeln der
Gesellschaft anpassen und sie uns, wenn möglich und nötig
uns annähern.
Die meisten von uns finden ohne all zu großen
Aufwand den für sie geeigneten Job. Sie lernen die jeweiligen
Spielregeln als Arbeiter, Angestellter oder Vorstandsvorsitzender,
modifizieren sie für ihren Vorteil solange es geht im Glauben,
dass es geht und lange genug geht (auf die Ökonomie und die
Arbeitswelt gehen wir detailliert später ein).
Was wir festhalten ist, dass die alten Kampfbegriffe, repressive Gesellschaft, angepasste Gruppe, widerständiges Individuum nicht mehr gelten, weder theoretisch noch faktisch. Moderne Gesellschaften sind eine Versammlung von zahllosen Gruppen, Gemeinschaften und Milieus, in denen Wir, jedenfalls die übergroße Anzahl innerhalb einer symbolischen, normativen Ordnung unseren Alltag leben.
Das Wir entspricht nicht dem, was der französische Soziologe Émile Durkheim im Jahr 1893 als „mechanische Solidarität“ bezeichnete. Damit beschrieb er eine Wertegemeinschaft, bei der sich die Mitglieder unbedingt ein- und unterordnen müssen und die in einigen Belangen ganz in der Nähe des Man bei Heidegger steht. Diese Struktur stammt letztlich aus der alten Stammesgesellschaft, also aus finsterer Vorzeit, ist normativ bis gewalttätig gegenüber allen, die abweichen, und lässt nicht mit sich verhandeln. Die mechanische Solidarität ist der Kadavergehorsam des Wir, der Gruppenzwang, die Tyrannei der Mehrheit gegen die Minderheit. Natürlich ist sie nicht ausgestorben, aber sie entspricht auch nicht mehr modernen Gesellschaften.
Und dies war auch schon sichtbar in Durkheims Hoffnungen, die sich vor fast hundert Jahren schon an eine differenziertere Welt richteten, die komplexer, offener und damit auch nicht mehr so kontrollierbar in ihren Mikrokosmen sei wie das, was den Inhalt der mechanischen Solidarität bildete. Durkheim nennt diese Welt die Welt der „organischen Solidarität“, bei der Menschen sinnvolle Solidargemeinschaften bilden. Dabei hatte Durkheim die Versorgung im Alter oder bei Krankheit im Sinne und so ein Prinzip, bei dem die Selbstverantwortung des Einzelnen die tragende Rolle übernehmen sollte.
Das Individuum sollte im Zentrum stehen, sei das Fundament solcher Gemeinschaften. Nur dort, wo jeder sein Bestes tun könne, käme am Ende für alle etwas Gutes heraus. Das Wir in einer komplexen Welt lebt demnach von der Selbstverantwortung des Ich und unserer Fähigkeit, uns bewusst zu verändern und damit auch die Spielregeln unseres Zusammenlebens zu gestalten. Gewiss, die Idee, die in Durkheims Traum Regie führte, ist nicht ganz in Erfüllung gegangen. Gleichwohl ist unsere moderne Gesellschaft nicht mit alten Begriffen der Soziologie zu beschreiben.
Anmerkungen:
1Heidegger, Sein und Zeit, S. 127
2 Ebd.
3Ebd.
4Ebd., S. 331
5Ideen, I, 44
6"Das
Ding", so am 6. Juni 1950 der Titel eines Vortrags von Martin
Heidegger, gehalten in der Bayerischen Akademie der Schönen
Künste: "...Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug
als ein Ding. Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen
versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein
je Weiliges: in dieses, in jenes Ding..."
"Bis
die Dinge zu handeln beginnen. Das Ding ist nicht, es dingt.
Heidegger kennt die Wortgeschichten. "Ding" kommt vom
althochdeutschen "thing", dem Wort für "Versammlung",
"Gericht", worin die "gemeinsame Streitsache"
zum Austrag kommt. Also, das Ding liegt nicht einfach da, es trägt
unsere menschlichen Angelegenheiten aus. Wer das nicht versteht, ist
für Heidegger verloren. Vielleicht gar fürs Weintrinken.
Denn: "Im Wasser des Geschenks weilt die Quelle. In der Quelle
weilt das Gestein, in ihm der dunkle Schlummer der Erde, die Regen
und Tau des Himmels empfängt. Im Wasser der Quelle weilt die
Hochzeit von Himmel und Erde. Sie weilt im Wein, den die Frucht des
Weinstocks gibt, in der das Nährende der Erde und die Sonne des
Himmels einander zugetraut sind. Im Geschenk von Wasser, im Geschenk
von Wein weilen jeweils Himmel und Erde. Das Geschenk des Gusses
aber ist das Krughafte des Kruges. Im Wesen des Kruges weilen Erde
und Himmel..."
(Auszug aus dem Artikel "Der Gründer
der Ding-Dynastie" von Dr. Ludwig Hasler, Die Weltwoche
(45/2004))
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